„Quo vadis“ – „wohin wird das führen“? Seit anderthalb Jahren stellen sich viele Alleinunterhalter und Live-Musiker diese Frage. Wie können Wege aus der Krise heraus aussehen und wie ist überhaupt die Stimmung in der Branche? Diesen Fragen gehen wir nach.
Ein Glas kann, je nach Sichtweise, halb voll oder halb leer sein. Das trifft auch für Entertainer in Pandemiezeiten zu. Die einen sehen wieder das „Licht am Ende des Tunnels“, andere haben ganz aufgeben müssen oder beschäftigen sich aktuell mit dieser Entscheidung. Die Frage „wohin wird das führen?“ ist mehr als berechtigt. Fakt ist: Aktuell weiß niemand wirklich, wie die weitere Reise auf dem Weg aus der Pandemie aussehen wird.
Eine kurze Bestandsaufnahme
Tatsächlich lag schon im Juni die Inzidenz in der Uckermark (Brandenburg), der Heimat von Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel, bei sagenhaften 0,8 und einer einzigen Neu-Infektion in einer Woche, der dortige Innenminister sprach vom „Ende des Lockdowns“ (Quelle: tagesspiegel.de, 9. Juni). Angesichts solcher Zahlen mochte man fast schon ans Ende der Pandemie glauben. Wenige Tage später, am 11. Juni, meldete sich der derzeit allgegenwärtige Karl Lauterbach (Politiker, Mediziner und Gesundheitsökonom) zu Wort und nannte „Veranstaltungen mit 1000 Besuchern im Freien und mit Testkonzept“ möglich. Selbst auf Veranstaltungen in Innenräumen müsse man wohl nicht mehr lange warten.
Ab Ende Juni gab es weitreichende Lockerungen, und genau einen Monat später, am 9. Juli, überraschte das Bundesland NRW: Diskotheken, Sportveranstaltungen, Musikfestivals und Volksfeste sind wieder erlaubt, Kontaktbeschränkungen, Masken- und Nachverfolgungspflichten deutlich reduziert. Möglich machte es eine neu eingeführte „Inzidenzstufe Null“ (höchstens zehn Neuinfektionen pro hunderttausend Einwohner an fünf aufeinanderfolgenden Tagen). Konkret muss man in die Corona-Verordnung seines Bundeslandes oder Landkreises schauen, aber grundsätzlich sind Veranstaltungen wieder möglich. Es gilt auch kein generelles Tanzverbot mehr. Im Juli war sogar zu lesen, demnächst seien womöglich wieder Veranstaltungen mit bis zu 25.000 Besuchern erlaubt. Zeichen von Normalität und Grund zur Freude also. Oder?
In der Realität viele Absagen
Wären da nicht die Mahner, die laut rufen: „Stopp! Das ist viel zu früh. Spätestens im Herbst fliegt uns das um die Ohren.“ Das ist die andere Seite der Medaille. Noch sind die Zahlen glücklicherweise niedrig, aber die Inzidenzen steigen schon wieder. Die gefürchtete „Delta-Variante“ scheint dabei beherrschend zu sein und eine vierte Infektionswelle könnte vielleicht nicht erst im Herbst zu erwarten sein, sondern bereits begonnen haben, so die Meinung einiger Experten.
Während man noch darüber streitet, wann in Zukunft welche Regelung greifen soll und wie sehr überhaupt noch auf Inzidenzen geschaut werden soll, betonen alle einhellig, bloß nicht noch einen Lockdown haben zu wollen. In der Realität steht gegen alle Lockerungen aber auch: Viele Festivals, Konzerte und Messen bis tief in den Herbst hinein wurden längst abgesagt! Sie alle aufzuzählen, sparen wir uns, aber beispielsweise Rock am Ring, Deichbrand oder Wacken zählen erneut dazu. In anderen Bereichen sieht es nicht besser aus: Die Frankfurter Musikmesse, die gemeinsam mit der Buchmesse als ein „Kulturfestival“ Ende Oktober endlich wieder durchstarten wollte und neue Impulse dringend gebraucht hätte, wurde bereits vor Monaten abgesagt. Andere kleinere Messen zogen seitdem hinterher. Wie Herbst und Winter aussehen werden, was an Veranstaltungen, Weihnachtsmärkten et cetera in diesem Jahr tatsächlich noch stattfinden wird – wer vermag es schon zu sagen?
Die Krise überstehen
Für alle live-spielenden Musiker und Entertainer ist das eine brutale Situation. War 2020 für sie schon ein Ausnahmejahr, haben viele auch 2021 längst abgeschrieben. Dass jetzt, schneller als gedacht, die Auftragslage vielleicht noch etwas anzieht, wird viele umso mehr freuen. Was aber bleibt, ist das dumpfe Gefühl: Was, wenn es doch nochmal zu einem Lockdown kommt? Oder zu einer neuen Pandemie? Dass wir davor nicht gefeit sind, mussten wir nun lernen. Kann man als Entertainer so eine Zeit überstehen und sich auf die „Zeit danach“ vorbereiten? Muss man das überhaupt? Oder reicht vielleicht „abwarten und Tee trinken“? Wir sind solchen Fragen nachgegangen. Jede Krise als Chance nutzen – das wird häufig propagiert, dürfte aber leichter gesagt als getan sein, wenn einen handfeste Existenzsorgen nicht mehr schlafen lassen. Dass es geht, auch wenn es sicher nicht besonders einfach ist, zeigen unsere Interview-Beiträge. Patent-Lösungen haben auch wir nicht im Gepäck, aber manche Einblicke und Anregungen.
Aktuelle reale Zahlen
Zunächst wollen wir versuchen, mit konkreten Zahlen die Situation des Marktes zu beleuchten. Dazu betrachten wir eine interessante Veröffentlichung des Deutschen Musikrats und des Deutschen Musikinformationszentrums (MIZ). Diese ist zu finden auf der Internetseite des MIZ (http://www.miz.org/downloads/statistik/85/85_Freiberuflich_Taetige_in_der_Sparte_Musik_nach_Taetigkeitsbereich_und_Durchschnittseinkommen.pdf). Dort findet man genaue Zahlen über musikalisch freiberuflich Tätige und deren Jahres-Durchschnittseinkommen. Sie helfen uns weiter, um einiges, was in der allgemeinen Diskussion eher vermutet wird, konkret zu machen. Allerdings: Die Zahlen beziehen sich auf Versicherte in der Künstlersozialkasse (KSK). Wer einem anderweitigen Hauptjob nachgeht und als Entertainer nebenberuflich auftritt, was auf viele zutreffen dürfte, ist nicht in der KSK versichert. Wie viele also tatsächlich aufgrund der Pandemie aufgehört haben als Entertainer aufzutreten, insbesondere im semi-professionellen, nebenberuflichen Bereich, ist schwer in Zahlen zu benennen. Trotzdem helfen die Daten vom MIZ, sich einen Eindruck über einige Größenordnungen zu verschaffen.
Prozentuale Verteilung
Von den in der KSK versicherten Musiker/innen sind aktuell 11,6 Prozent Musiker/innen aus den Bereichen Pop-, Rock-, Tanz- und Unterhaltungsmusik. In absoluten Zahlen reden wir von 6414 Künstler/innen, wovon 87 Prozent männlich sind. Weitere 4,0 Prozent sind Sänger/innen aus demselben musikalischen Bereich, in konkreten Zahlen 2212 Sänger/innen – übrigens mit interessanter anderer Geschlechter-Verteilung, denn hier sind immerhin 56 Prozent Frauen. Insgesamt sprechen wir also von 8626 Musiker/innen und Sänger/innen aus dem Bereich der Pop- und Unterhaltungsmusik, das sind 15,6 Prozent der aktuell bei der KSK versicherten Musiker/innen. Damit ist das die zweitgrößte Gruppe nach Musiklehrer/innen! Diese machen allerdings 49,5 Prozent aus (mehr als das Dreifache) – danach kommt lange gar nichts.
In den Statistiken des MIZ wurden bis 2016 die Sparten „Tanz- und Popmusiker“, „Unterhaltungs- und Kurmusiker“ sowie „DJs und Alleinunterhalter“ getrennt betrachtet. Seit 2017 werden sie unter dem Sammelbegriff „Musiker/in Pop-, Rock-, Tanz- und Unterhaltungsmusik“ zusammengefasst. Genauso verhält es sich bei den Sänger/innen, die vormals unter der Bezeichnung „Sänger/in für Unterhaltung, Show, Folklore“ erfasst wurden, seit 2017 jedoch unter derselben Sammelbezeichnung laufen.
Verschiedene Instrumente sorgen für eine größere Klangvielfalt.
Statistische Überraschungen
In diesem gesamten Bereich gab es von 2000 bis 2021 einen Zuwachs von 67,2 Prozent (!) an ausübenden Musiker/innen, wozu explizit auch Alleinunterhalter zählen. Auch deren durchschnittliches Jahreseinkommen stieg statistisch im genannten Zeitraum kräftig an, nämlich um 32,8 Prozent – zumindest bis zur Pandemie. Anders sehen die Zahlen bei den separat erfassten Unterhaltungs-Sänger/innen aus: in dieser Berufsgruppe kamen personell im selben Zeitraum lediglich 35,5 Prozent hinzu. Das durchschnittliche Jahreseinkommen stieg dafür aber um 39,9 Prozent, also stärker als bei den Musiker/innen. Hinzu kommt, dass das durchschnittliche Jahresgehalt der Sänger/innen von jeher wahrnehmbar über dem der Musiker/innen lag und liegt.
Personell verursachte die Pandemie scheinbar nicht einen so großen Einbruch wie befürchtet. Zumindest noch nicht. Gegenüber 2020 gibt es, basierend auf den KSK-Zahlen, einen Rückgang von 1,6 Prozent bei den Musiker/innen (inklusive Alleinunterhaltern) und 0,6 Prozent bei den Sänger/innen.
Finanziell ist der Einbruch aber wesentlich dramatischer: Prognostiziert wird sich das durchschnittliche Jahreseinkommen der Musiker/innen 2021 gegenüber 2020 um 31,6 Prozent zurückentwickeln. Das ist, zum Vergleich, knapp genauso viel wie es in einem Zeitraum von 20 Jahren (2000 bis 2021) zugelegt hatte! Der Gehaltseinbruch im Bereich der Pop-, Rock-, Tanz- und Unterhaltungsmusiker ist überdurchschnittlich höher als in allen anderen Bereichen. So beträgt er bei Musiklehrer/innen 6 Prozent und Textdichter sind mit 9,4 Prozent betroffen. Für alle ausübenden Künstler/innen zusammengefasst (Dirigenten, Chorleiter, klassische Orchestermusiker, Opernsänger, Chöre und so weiter) wird eine Einkommensprognose von minus 24,8 Prozent genannt, für „alle Versicherten der Sparte Musik“ insgesamt sogar „nur“ ein Minus von 14,3 Prozent.
Besonders hart getroffen
Keine Frage also: Die Unterhaltungs- und Entertainment-Branche hat es besonders hart getroffen! Noch härter auch als andere Musikbereiche, das kann durch Zahlen belegt werden. Da klingt es eher makaber, dass das voraussichtliche Jahresdurchschnittseinkommen selbst im krisengeschüttelten 2021 angeblich immer noch 32,8 Prozent über dem Niveau der Jahrtausendwende liegt. Dem Entertainer, der in den letzten zwölf Monaten nicht „gefühlte“ 31,6 Prozent weniger Einkommen hatte, sondern reale 100 Prozent, weil er nämlich von heute auf morgen keinen einzigen Gig mehr hatte, hilft das nicht weiter!
Das durchschnittliche Jahreseinkommen (Rock/Pop/Tanz/Unterhaltung) der Musiker/innen wird für dieses Jahr mit 11.142 Euro beziffert, das der Sänger/innen mit 14.206 Euro. Selbst wenn man auf diese Einnahmen kommt, macht das runde 930 Euro pro Monat. Davon allein zu leben, ist schon „sportlich“. Aber viele werden sich jetzt vielleicht sogar verwundert die Augen reiben und fragen, wie diese Prognosen zustande kommen. Denn wie jemand, der bis August im ganzen Jahr noch nicht einen Ton live gespielt hat, überhaupt noch diese Zahl erreichen will, bleibt rätselhaft. Diese Statistik wurde übrigens im April 2021 veröffentlicht. Vielleicht ging man da für den Rest des Jahres einfach noch von anderen Zahlen und Entwicklungen aus.
Natürlich geht es auch in dieser Statistik nur um Durchschnitte. Trotzdem könnte der Kontrast zu vor der Pandemie krasser gar nicht sein! „Hart“ war das Geschäft sicher schon immer. Doch es gab eine Menge Entertainer, die von ihrer Kunst durchaus sehr gut leben konnten – und es wird sie hoffentlich auch nach der Pandemie noch geben. Wer zum Beispiel im Gala-Geschäft oder im Bereich gehobener Privatveranstaltungen gut etabliert ist, in Glanzzeiten zehn bis 15 Auftritte im Monat macht und im Schnitt 500 bis 600 Euro oder sogar mehr am Abend mit nachhause nimmt, kann davon wohl recht solide leben. Wieder dahin zu kommen, ist klar das Ziel. Aber wird das gelingen? Und in welchem Zeitrahmen?
Das gesamte Special inklusiver Interviews mit Jürgen Satorius (Entertainer), Doris Popp (Eventpeppers) und der ZAV-Künstlervermittlung der Bundesagentur für Arbeit lest ihr in der Tastenwelt 5/2021.
Text: Christoph Klüh
Fotos: Shutterstock: Piotr Piatrouski, moreimages